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Titel
Britannia rules the Rhine. Die britische Rheinlandbesatzung 1918–1926


Autor(en)
Neuwöhner, Benedikt
Reihe
Krieg in der Geschichte
Erschienen
Paderborn 2023: Brill / Schöningh
Anzahl Seiten
XII, 380 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Kempkens, Bergheim

Die britische Besatzung des Rheinlandes bis 1930 gehört in den historischen Kontext der umfänglichen Krisenjahre der Weimarer Republik. Umso erstaunlicher erscheint auf dem ersten Blick, dass Deutsche ihr Leben in der britischen Zone rückblickend als auf einer „Insel der Seligen“ (S. 1) bewerteten. Von dieser Beobachtung ausgehend fragt Benedikt Neuwöhner in seiner 2022 vorgelegten geschichtswissenschaftlichen Dissertation an der Universität Duisburg-Essen nach „Organisation, Praxis und Auswirkungen der britischen Besatzungsherrschaft vor Ort“ (S. 3). Der Autor konzentriert sich hauptsächlich auf die britische Besatzung im Kölner Raum vom Dezember 1918 bis zu ihrem Abzug in den Wiesbadener Brückenkopf im Januar 1926.

Besatzung definiert Neuwöhner nicht – wie bisher oft in der Forschung – als statischen Prozess, „der ausschließlich von den Besatzern bestimmt wird“, sondern als „wechselseitige nicht abgeschlossenen Konstellation“ von „Aushandlungsschritten zwischen Besatzern und Besetzten“ (S. 20). Deshalb nutzt er auch einen erweiterten praxeologischen Ansatz, der „nicht nur Routinen, sondern auch intentionales Handeln“ einbezieht (S. 21). Neuwöhner interessiert sich folglich vor allem für die Handlungen von britischen Führungskräften und ihre Zusammenarbeit mit den Landräten, Bürgermeistern, Gewerkschaftern und Unternehmensleitungen. Die britische Besatzung war auf diese Kooperation angewiesen, um ihre Herrschaft in den Krisenzeiten der Republik bis 1923 zu gewährleisten, war ihre militärische Präsenz doch so schwach, dass sie eine deutsche Polizeitruppe aufstellen ließ.

Die „indirect rule“ bildet den „roten Faden“ der vier Hauptkapitel. Im ersten stehen die politischen Entscheidungen vom Waffenstillstand über den Versailler Vertrag bis zum Vertrag von Locarno von 1925 im Fokus. Die Außenpolitik Großbritanniens und Frankreichs wird dem Forschungsstand entsprechend kurz dargestellt. Sie beeinflusste die unsichere Lage der Besatzer ebenso wie die aus deutscher Sicht „prekäre Legitimität“ ihrer Präsenz (S. 48).

Im zweiten Kapitel kann Neuwöhner überzeugend zeigen, wie die britischen Offiziere und die deutschen Landräte auch deshalb meistens gut zusammenarbeiteten, weil sie „trotz erbitterter Feindschaft“ im Ersten Weltkrieg „im Rahmen ihrer sekundären Sozialisation“ Tugenden wie „Höflichkeit, Leistungsbereitschaft und Selbstdisziplin“ sowie hierarchisches Denken für bedeutsam erachteten (S.107).

Die ‚indirect rule‘ musste sich in der Praxis bewähren, wie das dritte Kapitel zeigt. Primäres Ziel der britischen Besatzung war die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Um gewalttätige Konflikte – von der Revolution 1918/19 bis zur Staatskrise 1923 – vorzubeugen und gegebenenfalls eindämmen zu können, schuf sie ein ausgedehntes Informationswesen. ‚District Officer‘ in den Groß- und Kreisstädten sammelten von den Bürgermeistern und Landräten regelmäßig Informationen über die politische, soziale und wirtschaftliche Lage der Bevölkerung. Dennoch konnten diese vorbeugenden Maßnahmen nicht verhindern, dass radikale Parteien wie USPD und KPD, Organisationen wie „Der Stahlhelm“ und rheinische Separatisten die Besatzungsmacht herausforderten. Mit Verhandlungen, Verboten und Fahndungen blieben sie Herr der Lage: In Solingen beispielweise entstand 1920 durch Lohnforderungen der Arbeiter und der anschließenden Aussperrung ein regionaler Generalstreik, den der britische Sub-Commissioner Ryan durch Gespräche mit den Gewerkschaften eingrenzte. Er drohte aber auch mit dem Einsatz von Soldaten, sollte der Bürgermeister attackiert werden. Studentische Vereinigungen in Köln wurden überwacht. Bei Razzien in Engelskirchen und Benrath fanden die Besatzungsbehörden eine Zelle der rechtsnationalistischen Organisation „Escherich“. Ihre Anführer wurden ausgewiesen und Propagandaschriften gegen die Besatzung beschlagnahmt.

Im ebenso großen vierten Kapitel arbeitet der Autor am Beispiel der Stadt Köln die hohe Bedeutung symbolischer Handlungen heraus, insbesondere für das Selbstwertgefühl der britischen Soldaten. Truppenparaden mit französischen und belgischen Kommandeuren und Flugschauen sollten den Willen der britischen Armeeführung demonstrieren, dass sie gemeinsam Besatzungspolitik mit ihren Alliierten betrieben; aber ihre offensichtlichen Konflikte kamen deshalb hier nicht vor. Die Wirkung derartiger Veranstaltungen auf deutsche Zuschauer blieb indes begrenzt, weil diese nur am Rande die Inszenierungen verfolgen konnten. Hingegen nutzten DNVP und Kriegervereine Gedenkfeiern für gefallene deutsche Soldaten in Köln zu antibritischen und antidemokratischen Reden. Solche Haltungen waren in der Bevölkerung weit verbreitet und hatten ihren Ursprung teilweise auch in der schlechten wirtschaftlichen Lage des besetzten Rheinlands, die durch Reparationen, Zollgesetze und komplizierte Genehmigungsverfahren noch verschärft wurde.

Das Fallbeispiel Bayer AG in einem eigenen Abschnitt illustriert diese Thematik: Der Leverkusener Konzern als Teil der chemischen Industrie des Reiches musste, wie im Versailler Vertrag festgelegt, die Hälfte seiner Farbenbestände und ein Viertel der laufenden Farbenproduktion als Reparationen an Großbritannien liefern. Die in der britischen Zone geltenden Einfuhrkontrollen erschwerten außerdem die Belieferung aus dem Reich. Deshalb musste das Unternehmen intensiv mit den meistens konzilianten britischen Besatzungsbehörden über praktikable Lösungen verhandeln, weil beide Seiten zudem keinen Produktionsstillstand wünschten.

Sinnvollerweise schließt der Autor dann die Darstellung der Arbeitskämpfe in Betrieben an. Die Besatzer verfügten frühzeitig ein Streikverbot, um durch Schlichtungen die Lohnkämpfe zu kanalisieren. Als sowohl die linksradikalen Gewerkschafter der Benrather Metallarbeiter und später die Streikenden im Braunkohlenbergbau und den Eisenbahn-Betrieben sich nicht darauf einließen, mussten britische Soldaten die Streiks gewaltsam beenden, um die von ihnen gewünschte Stabilität herbeizuführen. Während der Ruhrbesetzung und der parallelen Hyperinflation verhinderten belgische und französische Grenzposten den Import von „Bargeld, Kohle und Rohmaterialien“ (S. 316), sodass die Arbeitslosigkeit auch im britisch besetzten Rheinland rasant anstieg. Deshalb entstanden viele lokale Unruhen, die die Sicherheitspolizei gewaltsam beendete. Die ‚indirect rule‘ musste der direkten Intervention weichen.

Der flüssige Stil der Studie erleichtert die Lektüre ebenso wie die präzise definierten Begriffe und der klare methodische Zugriff. Für seinen praxeologischen Ansatz nutzt Neuwöhner sowohl die Erinnerungen britischer Besatzungsoffiziere sowie deutscher Beamter als auch Bestände des Stadtarchivs Köln und der Archive der Landkreise. Die Berichte der District Officer sind teilweise so detailliert, dass sie als Grundlage für eine sozialgeschichtlich fokussierte Landesgeschichtsschreibung dienen könnten. Die wirtschaftlichen Entwicklungen innerhalb der britischen Besatzungszone und der Einfluss der Entscheidungen der Interalliierten Regierungskommission kommen im Buch hingegen zu kurz, obwohl sie mitentscheidend waren für den Handlungsbedarf der Besatzer und der deutschen Verwaltung.

Insgesamt legt der Autor eine überzeugende Studie zur britischen Besatzung des Rheinlands von 1918 bis 1926 vor. Daran können weitere historische Darstellungen anknüpfen.

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